Der Live-Mitschnitt von Keith Jarretts Köln-Konzert, das Sie als 18-jährige Schülerin veranstalteten, ist bis heute das meistverkaufte Album eines Solisten aller Zeiten. Trotzdem ignoriert der legendäre Pianist Sie und seine erfolgreichste Platte?
Keith Jarrett äußert sich zu dem Konzert schon seit langer Zeit nicht mehr, obwohl es eine unglaublich berühmte Platte wurde. Jedes Mal, wenn ein Jubiläum stattfindet, klingelt deshalb bei mir das Telefon. Ich gebe als einzige Augenzeugin und direkt Beteiligte an dem Konzert noch Interviews dazu.
Warum will Keith Jarrett nicht darüber reden? Es war sein größter Erfolg, hat vier Millionen Alben verkauft, ein Jahrhundertwerk.
Jarrett hat hundert verschiedene Platten gemacht und er findet, das ist von all den Dingen, die er gemacht hat, musikalisch das Trivialste. Nach seinem persönlichen, subjektiven Empfinden kennen ihn viel zu viele Leute wegen einer Sache, die aus seiner Überzeugung hundertprozentig nicht das Beste ist, was er in seinem Leben gemacht hat. Ein britischer Journalist hat die Story mal aus meiner Perspektive erzählt, ohne jemals mit mir gesprochen zu haben. Und diese Story ist einfach durch die Decke gegangen. Regisseur Ido Fluk hat das offensichtlich gehört und, ohne mit mir gesprochen zu haben, ein Treatment geschrieben. Irgendwann klingelte mein Handy: „Wir wollen einen Film über das Köln-Konzert machen, aber die Geschichte aus Ihrer Perspektive erzählen. Was halten Sie von der Idee?“ Ich habe erst mal tief durchgeatmet und gesagt: „Endlich!“ (lacht)

Sie waren erst 18, als Sie das Konzert 1975 organisiert haben. Ihr Vater, ein Zahnarzt, im Film brillant gespielt von Ulrich Tukur, war wenig begeistert.
Ich habe über Bekannte meiner Großmutter mit 15 angefangen, Konzerte nicht nur von vorne, sondern aus dem Backstagebereich zu sehen. Man traf sich regelmäßig in einem unglaublich eleganten italienischen Eissalon in der Kölner Hohen Straße, unweit vom WDR. Da lernte ich an der Theke irgendwann den Jazzmusiker Ronnie Scott kennen. Nach einer Weile fragte er mich – ich war gerade 16 –, ob ich für ihn eine Tournee organisieren würde. Ich hab natürlich erst mal schallend gelacht und gesagt: „Hör mal, ich gehe zur Schule.“ Er antwortete: „Aber in Deutschland ist die Schule mittags zu Ende. Und du hast den ganzen Nachmittag nichts zu tun.“ (lacht) „Ich mache mein Abitur. Ich muss da schon ein bisschen was tun“, sagte ich. „Du bist so schlau, du musst nicht viel machen.“ Dann rief er nachts an, zwischen 23 und 24 Uhr, auf dem Praxistelefon meines Vaters. Ich habe tief geschlafen. Aber mein Vater, irgendwie aufgeschreckt, weckte mich und sagte: „Da ist ein Mann, der spricht Englisch am Telefon, der will mit dir sprechen.“ Und nachdem sich das das dritte Mal wiederholt hat, war mir klar: Ich muss jetzt irgendwas machen, damit er aufhört, meinen Vater aus dem Bett zu klingeln. Dann habe ich einen bekannten Musiker gebeten, mir die Telefonnummern der Clubs zu geben, wo er mit seiner Band in Deutschland auftritt. Und dann habe ich angefangen, die durchzutelefonieren: „Ich organisiere eine Tournee für Ronnie Scott und der Soundsovielte ist noch frei.“ Am Ende hatte ich eine Serie von zehn Konzerten zusammen. Als die Tour zu Ende war, hat mir Ronnie zehn Prozent der Gage auf den Tisch gelegt. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Er sagte: „Du machst einen super Job. Das hast du verdient, behalte es.“ Und plötzlich war ich Agentin.
Wie muss man sich Vera Brandes mit 18 vorstellen?
Ich ging wahnsinnig gerne zu Konzerten, weil das für mich der absolute Fluchtpunkt von dieser sehr ernsten Umgebung war. Die akustische Kulisse meiner Jugend war Johann Sebastian Bach aus dem Lautsprecher der Anlage meines Vaters. Und schreiende Kinder auf dem Stuhl seiner Zahnarztpraxis nebenan. Die Türe zur Wohnung war so dünn, dass man das nicht überhören konnte. Es war fürchterliches Weinen und Schreien den ganzen Tag zu hören. Sehr wahrscheinlich kann ich deswegen sehr gut mit Free Jazz umgehen. (lacht)

Wie kam es zum Köln-Konzert?
Das Köln-Konzert war Nummer fünf der Serie „New Jazz in Köln“. Das Köln-Konzert folgte einem Muster, das nicht von mir, sondern von Gigi Campi stammte, dem Besitzer dieses eleganten italienischen Eiscafés und Organisators des Kölner Jazzfestivals. Als ich dann von ECM Records einen Anruf bekam und das Angebot, ein Konzert von Keith in Köln zu machen, habe ich sofort zugesagt. Die Kölner Oper zu kriegen war deswegen nicht so schwierig, weil es eben schon ein Jazz-Solokonzert an einem Freitagabend um 23 Uhr dort gegeben hatte.
Jarrett wollte einen Bösendorfer-Flügel, der irgendwo im Keller abgestellt wurde. Was blieb, war ein alter, defekter Stutzflügel, auf dem er sich anfangs weigerte zu spielen.
Die Kölner Oper hatte exakt den Bösendorfer, auf dem er spielen wollte. Und die Anweisung der Verwaltung an die Klaviertransportfirma war sehr knapp formuliert: „Freitag, 15 Uhr, Bösendorfer auf die Bühne.“ Nur, was die Verwaltung nicht wusste, war, dass die Inspizienten den Konzertflügel in den Verbindungsgang zwischen der Kölner Oper und dem Schauspielhaus stellten, wo eine konstante Temperatur und Luftfeuchtigkeit herrschte. Und als am Freitag die Transportfirma kam, war niemand mehr im Dienst und die Abendmannschaft noch nicht da. Der einzige, den es noch gab, war der zweite Flügel in der letzten Damengarderobe des Kölner Opernchors, in dem die sich einsangen. Den stellten sie abends auf die Bühne. Als ihn Keith sah, weigerte er sich aufzutreten.
Die Klavierstimmer retteten schließlich den Abend und das Konzert.
Ich habe zuerst alles in Bewegung gesetzt, um irgendwo ein anderes Instrument zu bekommen. Am Ende habe ich vom Verwaltungschef der Kölner Volkshochschule, wo genau so ein Bösendorfer stand, die Genehmigung bekommen, seinen Flügel in die Kölner Oper zu bringen. Aber es gab keine Transportfirma mehr, die bereit war, das an dem Freitagabend noch zu machen. Wir mussten es also selber organisieren. Ich habe meine Klassenkameraden angerufen und gesagt: „Ihr müsst mir helfen, wir müssen den Flügel rüberholen.“ Als wir uns auf den Weg machen wollten, kamen uns die Klavierstimmer entgegen, Vater und Sohn, und die sagten: „Frau Brandes, haben Sie zu Hause ein Sparbuch mit 40.000 D-Mark? Das werden Sie brauchen, weil wenn Sie das, was Sie jetzt vorhaben, umsetzen, dann ist der Bösendorfer anschließend nur noch Kaminholz: der Temperaturunterschied, der Regen draußen, das Kopfsteinpflaster. Er wird unspielbar sein. Also, lassen Sie das. Wir versuchen jetzt irgendwie, dieses komplett ramponierte Instrument so weit hinzukriegen, dass der Jarrett darauf spielen kann.“
Er hat es schließlich widerwillig getan, nachdem er mehrmals das Konzert absagen wollte.
Bösendorfer sagt immer noch, das war ein absolutes Weltwunder, dass diese zwei Leute in diesen wenigen Stunden diese Schäden an dem Klavier beheben konnten. Leider leben weder der Vater noch der Sohn noch. Aber für mich waren die Klavierstimmer die Helden des Abends. Jarrett wollte nicht spielen. Er hatte natürlich eine riesige Erwartung an ein Konzert im größten Saal, in dem er bis zu diesem Zeitpunkt je gespielt hatte. Die Oper war ausverkauft, und das arme Schwein muss auf diesem Schrott irgendwie versuchen, das Konzert zu spielen. Es war absolut unzumutbar. Ich hätte verstanden, wenn er bei seinem Nein geblieben wäre. Als er dann ins Hotel zurückwollte, riss ich die Beifahrertür, wo Jarrett saß, auf, hockte mich hin, sodass ich Augenhöhe hatte mit ihm, und sagte dann in radebrechendem Englisch im Miles-Davis-Stil: „Keith, if you don’t play tonight, I’m gonna be truly fucked. And I know, you’re gonna be truly fucked, too.“ Er hat mich gefühlte drei Minuten ohne zu blinzeln angeschaut. Ich wusste nicht, was „fucked“ heißt, ich hatte halt einfach nur gehört, wie Miles Davis mit Jarrett redete und habe das imitiert. (lacht) Schließlich sagte er: „Okay. But never forget, just for you.“ Und er hat gespielt.

Wie ist das Gefühl, wenn man sein eigenes Leben auf der Leinwand sieht?
Das kann man nicht beschreiben. In dem Moment, als ich den Film im Berlinale-Kino mit tausend Leuten sah, die beim Abspann im Rhythmus der Musik geklatscht haben, das Publikum ausgeflippt ist und du auf die Bühne gebeten wirst, in dem Moment ist mir einfach klar geworden, was das für ein Geschenk ist.

Sie haben nach dem Konzert mehrere Plattenlabels gegründet, eine Firma in den USA. Sie haben über 350 Alben auf den Markt gebracht. War das alles eine Folge dieses Konzerts?
Nein, gar nicht. Es hat mir überhaupt nichts genutzt. Mein Name stand nicht auf der Platte. Es wusste da draußen keine Sau, dass ich das Konzert veranstaltet hatte. Ich bin damit nie öffentlich in Verbindung getreten, so lange ich in der Branche war. Erst als ich die Musikbranche verließ, habe ich darüber geredet. Diese Begegnung mit Manfred Eicher (Anm.: Mitbegründer von Jarretts Musiklabel ECM Records) hat mir eher geschadet. Er ist bis zum heutigen Tag extrem sauer auf mich. Und er hat mir alles in den Weg und zwischen die Beine geworfen, was man überhaupt nur irgendwie machen kann. Er hat mich echt bekämpft.
Der Chef des Musiklabels ECM, dem dieser Abend vier Millionen verkaufte Alben bescherte, hat Sie bekämpft?
Ja.
Hatten Sie nachher jemals wieder mit Keith Jarrett Kontakt?
Ich bin bei seinem letzten Konzert in Wien im Musikverein hinter die Bühne und habe ihm „Guten Abend“ gesagt. Seine Reaktion war so strange, dass ich ganz schnell wieder gegangen bin. Er tat so, als hätte er keine Erinnerung an das Ganze und auch nicht an mich. Anscheinend hat er mir diese Nacht nie verziehen.
Keith Jarrett und sein Label verdanken Ihrer Hartnäckigkeit das kommerziell erfolgreichste Album eines Instrumental-Solokünstlers der Musikgeschichte – und reagieren so?
Der Grund, warum mir ECM damals angeboten hatte, dieses Konzert zu veranstalten, lag ja darin, dass bei den vier von mir veranstalteten Konzerten vorher auch drei ECM-Künstler wie Gary Burton beteiligt waren. Es waren jeweils die größten Konzerte auf deren Tour. In dem Saal waren 1.500 Leute. Am Tag danach spielten sie in Hamburg vor 150 Leuten. Ich war denen so was von unheimlich. Egal, was ich anfasste, ich war so viel erfolgreicher mit allem, was ich tat, dass sie das als Bedrohung empfunden haben: „Wie kriegt die Maus das hin?“ (lacht)
Sie waren fast zwei Jahrzehnte lang im Musikbusiness erfolgreich. Dann hat 1995 ein Autounfall Ihr Leben völlig verändert. Sie hatten eine Nahtoderfahrung.
Ich war übermüdet. Ich hatte gerade meine Firma verkauft, war aber vertraglich verpflichtet, noch weiter mitzuwirken. Am Morgen dieses Unfalls hatte es ein Treffen in Mainz gegeben. Da ist mir zum ersten Mal klar geworden, dass ich in meinem eigenen Laden nichts mehr zu sagen habe. Es war Sonnenuntergang, ich bin in meinem 450er-Mercedes zurück nach Köln. Es war nicht viel los auf der Autobahn, aber ich habe eine Situation einfach falsch eingeschätzt, zu schnell in die falsche Richtung gelenkt, bin ins Schleudern geraten und habe mich überschlagen. Gott sei Dank bin ich in einem Abschnitt der Autobahn aufgekommen, wo es neben der Leitplanke rechts noch irgendwas gab und nicht auf einer der Talbrücken zwischen Wiesbaden und Köln. Es war so unwahrscheinlich wie nur was, dass ich das überhaupt überlebt habe. Ich habe es irgendwie geschafft, aus dem Auto rauszukommen, dann ging es auch schon in Flammen auf. Ich kam ins Krankenhaus und sollte im Idealfall nach zehn Wochen heim dürfen. Meine Nachbarin im Krankenzimmer bekam zweimal am Tag tibetische Heilmantras vorgesungen. Und nach zwei Wochen sagten meine Ärzte, dass meine Wunden und die Wirbelsäule komplett verheilt seien. Man hat mich nach Hause geschickt. Die ganze Geschichte ist einfach eine Aneinanderreihung von märchenhaften Wundern, wo ich mich im Nachhinein frage: Wer führte die Regie dabei?
Sie lehrten danach an der Universität über die Heilkraft der Musik?
Ich wollte immer schon forschen. Warum ist Musik so ein machtvolles Medium, wie beeinflusst sie uns? Ich habe nicht lockergelassen, bis ich fünf Jahre später in Salzburg an der Universität Mozarteum saß. Noch ein paar Jährchen später war ich Leiterin des Forschungsprogramms für Musikmedizin an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität und habe den Job 15 Jahre lang gemacht.
Sie befassten sich unter anderem mit Studien zum Effekt von Musik bei Depression, Burnout, Bluthochdruck. Kann Musik heilen?
Ja, ohne Zweifel. Die erste Studie habe ich mit Patienten gemacht, die unter Bluthochdruck gelitten haben. Dabei stellte sich heraus, dass sich die Herzfrequenz-Variabilität, nachdem Patienten vier Wochen lang fünfmal in der Woche 30 Minuten lang ein speziell komponiertes Musikstück gehört haben, um einen Faktor verbessert hat, den ein gesund alternder Mensch in zehn Jahren verliert. Das war so sensationell, dass mir die amerikanische psychosomatische Gesellschaft für meine allererste Studie gleich eine Auszeichnung verlieh. Was sich dann in der weiteren Analyse der Daten erst herausgestellt hat, war, dass jene Patienten, die nicht nur Bluthochdruck hatten, sondern auch unter Depressionen litten, am Ende des Untersuchungszeitraums keine oder nur noch minimale Symptome im Bereich der Depressionsskalen aufwiesen. Ich weiß noch genau, wie ich mit meinem Assistenten in der Uni saß und sagte: „Gernot, wir haben etwas ganz anderes gemacht, als wir wollten. Wir haben ein akustisches Antidepressivum gefunden.“ Musik ist ein so unfassbar wertvolles Tool.
Wie muss Musik sein, damit sie letztendlich eine heilende Wirkung hat?
Wann immer irgendein Einfluss von außen kommt, dann kann der Körper, der gesund ist, diese Einflüsse abfedern, verarbeiten und sich wieder regulieren. Die Krankheit entsteht immer da, wo dieses System starr wird, weil es nicht mehr reagieren kann. Altern ist auch nichts anderes als eine zunehmende Inflexibilität. Wenn du mit Musik arbeitest und genau weißt, was du tust, dann kannst du ganz gezielt diese Rhythmizität erhalten.
Sie haben 14 Jahre lang bis 2020 in Wien gelebt, bevor Sie nach Griechenland in den Süden des Peloponnes zogen. Geht Ihnen die Großstadt ab?
Na klar. Wien ist ein Traum. Jemand, der die Bühne so liebt und so gerne in Konzerte geht wie ich, dem fehlt das.
Ahnten Sie damals, dass diese Nacht mit Keith Jarrett Jahrzehnte später Ihr Leben nochmals verändern sollte?
Für mich war es ein Konzert von Hunderten. Es war nur eine Episode eines Lebens, das vorher schon sehr viele aufregende Momente hatte und danach noch viel mehr. Ich habe so viel Stoff, dass ich eine Netflixserie ohne Ende machen könnte mit Geschichten, die die Leute mitreißen. Ich hätte Hunderte von denen auf Lager.




