Sie sind zwei der einflussreichsten Player der globalen Kunstszene: Klaus Biesenbach, 59, war Chefkurator des Museum of Modern Art und Leiter des MoMA PS1 in New York, bevor er als neuer Direktor des Museum of Contemporary Art nach Los Angeles ging. Jetzt leitet er die Neue Nationalgalerie und das Museum Berggruen in Berlin. Hans Ulrich Obrist, 56, ist Künstlerischer Direktor der Serpentine Galleries in London und einer der wichtigsten Kuratoren zeitgenössischer Kunst. Das britische Magazin „Art Review“ wählte Obrist in seiner jährlichen „Power 100“-Liste zweimal auf Platz 1 – vor Jeff Koons, Ai Weiwei oder Larry Gagosian. Biesenbach und Obrist sind nicht nur Kunstmanager, die bestimmen, was in der globalen Kunstszene relevant ist. Sie sind auch seit über drei Jahrzehnten befreundet. Für CALL trafen sie einander in New York zu einem gemeinsamen Fotoshooting und einem offenen Gespräch über die Zukunft der Kunst in Zeiten von AI – und ihre eigene Vergangenheit.
Wann haben sich Ihre Wege das erste Mal gekreuzt?
Hans Ulrich Obrist (HUO): Das war in einem Nachtzug in Österreich 1993. Ich hatte einen Vortrag in Innsbruck, musste am nächsten Tag nach Venedig zur Biennale und habe den Nachtzug genommen. Der kam aus Wien und ist dann so um zwei Uhr Früh in Innsbruck gewesen. In diesem Zug gab es überhaupt keine freien Plätze, es war alles total voll. Es gab nur dieses eine Abteil, wo ich sah, dass eine Person alleine war, aber die Türe von innen verriegelt hatte, also habe ich geklopft.
In diesem Abteil saß Klaus Biesenbach?
HUO: So ist es.
Klaus Biesenbach (KB): Ich finde sehr merkwürdig, dass wir heute zum ersten Mal Deutsch miteinander sprechen. Ich denke, das war auch der Grund, warum wir damals gar nicht erst angefangen haben mit Deutsch, weil wir auf dem Weg zur Biennale waren. Es war eines der ersten Male, wo ich überhaupt nach Venedig gefahren bin. Damals sind alle mit dem Zug gefahren, da gab es diese vielen Flüge noch nicht. Wenn man viel mit dem Nachtzug unterwegs war wie ich, habe ich immer den Gürtel genommen und das Abteil mit ihm zugeschnallt. Dann konnte man es von außen nicht aufmachen. Ich hatte die Vorhänge zugezogen. So gesehen, Hans Ulrich, konntest du gar nicht sehen, dass ich da sitze (lacht). Aber die nette Konduktorin (Anm.: Schaffnerin) kannte den Trick. Und sie wusste, da hat sich jemand ein Nachtabteil gemacht und zugesperrt (beide lachen). Du kamst rein mit Tüten voller Zetteln, Büchern und Notizen und hast alles ausgebreitet. Ich hatte die Gardinen zu und wollte schlafen. Du brauchtest Licht und musstest deine Tüten voller Aufzeichnungen entfalten. So fing das an.
Sie – der Schweizer Obrist, der Deutsche Biesenbach – haben damals Englisch miteinander gesprochen?
HUO: Ja. Nachtzüge sind einfach ein fantastisches Medium, ich hatte immer viele Ideen in Nachtzügen. Es ist ein großartiger Ort, um zu arbeiten, um nachzudenken. Es ist, wie wir herausfinden konnten bei dieser Zugfahrt, auch ein großartiger Ort, um Freundschaften zu beginnen. Wir haben dann tatsächlich von Bozen bis Venedig gesprochen.
KB: Wir haben gesprochen, bis du in Mestre überraschend aus dem Zug gesprungen bist. Er schrie: „Gott, ich muss ja heiraten“. Aber wir hatten uns vorher verabredet. Ich war Medizinstudent und du, Hans Ulrich, warst Anfang 20.
HUO: Ich habe Ökonomie in St. Gallen studiert.
KB: Dann haben wir festgestellt, dass wir viele gemeinsame Freunde hatten. Damals gab es noch kein Mobiltelefon, E-Mail hatte ich, glaube ich, auch nicht. Und dann sagte Hans Ulrich: „Am 1. Oktober um 10 Uhr morgens, Paris, Musée d’Art Moderne, da trinken wir Kaffee.“ Irgend so was, ganz abstrus, ein vollkommen aus der Luft gegriffenes Datum, ein Ort und eine Zeit, die man sich merken konnte. Das war die einzige Verabredung, die wir hatten. Und dann haben wir das tatsächlich eingehalten. Sonst hätten sich, glaube ich, unsere Wege verloren.
HUO: Genau. Ich hatte damals schon begonnen, im Musée d’Art Moderne ein bisschen freelancemäßig zu arbeiten. Seither ist der Dialog nie mehr abgerissen.
KB: Das ist über 30 Jahre her.
HUO: Es ist ja auch interessant, weil Klaus und ich nicht aus der Kunstwelt kommen. Wir haben uns beide trotzdem sehr früh mit Kunst auseinandergesetzt und auch Freundschaften und Dialoge mit Künstlern gehabt, schon als Teenager. Wir hatten ja Mentoren, für mich waren es Fischli/Weiss (Anm.: Peter Fischli und David Weiss, zwei der renommiertesten Schweizer Gegenwartskünstler), Christian Boltanski, Annette Messager und Gerhard Richter, mit denen ich mich seit den späten 1980er-Jahren angefreundet habe. Und du hast gesagt, bei dir ist es Katharina Sieverding. Wir haben über Katharina gesprochen, über Marina Abramovic, Yoko Ono, über deine Mentoren. Das war so interessant, weil wir waren damals am Anfang unserer Wege als Kuratoren. Yoko Ono ist ja über 30 Jahre älter als wir. Und ich glaube, damals gab es eigentlich keine Gleichaltrigen in der Kunst, weil wir so jung waren. Klaus und ich hatten beide diese Idee, Ausstellungen an unerwarteten Orten zu machen und neue Orte für Kunst zu finden. Wir hatten damals auch nicht so viele Einladungen, Ausstellungen in etablierten Kunsthäusern zu machen, wir beide hatten deshalb so einen Do-it-yourself-Approach.

Wie wurde man in den 1990er-Jahren überhaupt Kurator?
KB: Hans Ulrich und ich sind eingeladen worden, was ich irgendwie vollkommen obskur finde im Nachhinein, von einer kleinen Institution in Japan, dem CCA Kitakyushu, um mit Lawrence Weimer, Marina Abramovic und Daniel Buren zwei Wochen durch Japan zu reisen und zeitgenössische Kunst zu erklären, wo ich selber noch so neugierig lernen wollte: „Was ist zeitgenössische Kunst?“ Wir waren damals so die Youngster, die darüber sprechen. Wie wird man Kurator? Ich muss gestehen, dass mir vielleicht gar nicht so bewusst war, dass das ein eigener Beruf ist. Wir haben einfach angefangen. Es war keine Absicht, es ist eher passiert.
HUO: Es gab irgendwie diese Figuren wie Harald Szeemann (Anm.: Schweizer Museumsleiter) und Kasper König (Anm.: deutscher Ausstellungsmacher), die für mich wichtig waren, Szeemann war in der Schweiz omnipräsent. Ich sagte ihm: Ich will irgendwie nützlich sein der Kunst. Dann sagte er zu mir: „Das nennt man Kurator.“ Meine Eltern waren sehr beruhigt, weil sie dachten, dass ich in den medizinischen Bereich gehe, weil „curare“ heißt ja heilen.
Sie haben dann verschiedene Projekte gemeinsam gemacht, 1997 den Hybrid-Workspace auf der documenta X in Kassel, ein offenes Medienstudio, aus dem die Berlin Biennale hervorgegangen ist.
KB: Ich glaube, 1995 war das erste Mal, als wir beide Projekte in Venedig hatten. Da waren wir nicht mehr nur Besucher.
HUO: Es war wie eine Road-Tour durch sieben japanische Städte und die hieß einfach: „Let’s talk about art“. Ich erinnere mich, dass Klaus und ich dann jede Nacht bei 7-Eleven einkaufen waren. Danach haben wir im Hotel die ganze Nacht geredet. So ist diese Freundschaft entstanden, diese Japanreise
war ganz wichtig. Und dann hatte ich die Einladung von der Serpentine Gallery, 1994/95 die erste Ausstellung zu machen, wo man alles machen konnte, was man sonst nicht machen darf. Das war das andere, was uns beide interessiert hat: Ausstellungen zu machen, die andere Spielregeln erfinden. Da hat die Serpentine mir dann eine ganz billige Wohnung für ein Jahr gefunden, so dass ich das vorbereiten konnte. Das war in Elephant & Castle in einer damals relativ verfallenen Stadtgegend. Da habe ich dann 50 Schlüssel des Apartments angefertigt, die all meinen Freunden geschickt und gesagt: „Wenn ihr eine Unterkunft wollt in London, willkommen!“. Klaus war einer der allerersten Besucher. Wir haben dann irgendwie lange Zeit da verbracht, was du noch heute das „Crampton Street Desaster“ nennst.
KB: I overstayed my welcome. Irgendwie hatte ich ja auch nicht so einen festen Stundenplan in Berlin und ich bin dann einfach da geblieben. Dann hatten wir so eine Routine. Du hast ja den Leonardo-da-Vinci-Rhythmus gelebt, also gar nicht geschlafen. Alle 3 Stunden für 15 Minuten. Ich musste doch mindestens bis 6 Uhr früh schlafen. Dann sind wir um 6 Uhr zum Burger King, weil der hatte schon auf, da konnte man dann Kaffee trinken neben so einem Parkplatz. Ich erinnere mich, wir haben dann einen Marathon gemacht, weil wir alle Künstler treffen wollten. Da kam dann Sarah Lucas an und danach Tracy Emin. Einfach brutally early, everybody, one after the other.
HUO: Ja, das war eigentlich der Anfang vom Brutally-Early-Club. Das haben wir dann später mit Markus Miessen (Anm.: deutscher Architekt)und Shumon Basar (Anm.: Schriftsteller und Kurator) formalisiert als richtigen Club, der sich um 6 Uhr früh trifft. Und am Abend waren wir dann auch öfters mit den Chapman-Brüdern (Anm.: britisches Künstlerduo) mit Sarah Lucas (Anm.: Young- British-Artists-Künstlerin) in Soho. Die Bar Italia war ja 24 Stunden offen. Wir waren eigentlich Flaneure. Wir hatten Zeit für Künstler und für Atelierbesuche. Unser Nachbar war der bekannte, leider sehr früh verstorbene Kunstkritiker Stuart Morgan, einer der Hauptautoren der frühen Zeit von Frieze. Die Zusammenarbeit für die documenta in Kassel hat sich dann organisch ergeben.
KB: Desaster war es für mich auch, weil du alle persönlichen Gegenstände des Untervermieters deiner Wohnung in schwarze Säcke gepackt und in einen Raum gestellt hast. Das hatte dann so ein bisschen was von Berlin 1990. Damals gab es eine ganze Generation von Künstlern, die alle ein bisschen älter waren als wir. Die wollten wir alle kennenlernen. Die Berlin Biennale fing 1996 an sich zu formalisieren. Dann wollten wir sie 1997 parallel zur documenta machen, bekamen das aber nicht hin. Und dann wurden wir eingeladen, so einen Space zu machen, der eigentlich Virtual Reality und KI und das Internet damals schon war, den Hybrid Workspace. Das war extrem seiner Zeit voraus, dass man nicht wusste, was ist real und was nicht. Und dann ist bei einer Performance Christoph Schlingensief (Anm.: deutscher Regisseur und Aktionskünstler) von der wirklichen Polizei verhaftet worden.
HUO: Ja, wir mussten ihn dann freikriegen auf der Polizeistation. Er hat sich irgendwie gegen den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl geäußert. Und diese Kanzlerbeleidigung wurde irgendwie von Besuchern in Kassel missverstanden. Er hat alle Arbeitslosen eingeladen, sich an den Sommerwohnsitz von Kanzler Kohl an den Wolfgangsee zu begeben. Er sagte: „Wenn alle Arbeitslosen in Deutschland in den See springen, dann überschwemmt das die Villa von Helmut Kohl.“ Da kamen dann aber nur ganz wenige Leute, aber es war ein gewaltiges Polizeiaufgebot. In unserem Hybridworkspace fanden auch sehr viele Workshops statt und Seminare, wo darüber nachgedacht wurde, wie sich das Digitale und das Analoge verhält. Dinge, die heute von großer Aktualität sind. Das wurde dann auch zu einem Teil von documenta, aber auch zu einem Präludium für das, was dann die Berlin Biennale wurde. Ein Labor. Unser Labor.
Hans Ulrich, Sie haben zu dieser Zeit viel in Österreich gemacht. Ich denke an das Museum in Progress, wo Sie Ausstellungen kuratiert haben, oder an die Kunsthalle Wien. Wie wichtig war damals Wien?
HUO: Wien war ganz wichtig für mich, ich kam schon als Teenager mit 16, 17 Jahren nach Wien und habe da Erwin Wurm und Alois Mosbacher besucht. Durch diese jungen Künstler bin ich auf Maria Lassnig gestoßen, das war schon 1986. Und dann gab es ja seither immer kontinuierliche Dialoge mit Wien. Es gab das Museum in Progress, so 1992, und 1993 „Der zerbrochene Spiegel“ mit Kasper König, die erste Großausstellung (Anm.: zu den Wiener Festwochen in der Kunsthalle und dem Museumsquartier) mit Malerei. Ganz entscheidend für mich war dann „Cities on the Move“ 1997. Im Gremium der Wiener Secession saß damals Erwin Wurm, der hat mir vorgeschlagen, mit seinen Kollegen diese Jubiläumsausstellung zu machen über asiatische Kunst, die ist dann um die Welt getourt.

Hat Wien in den letzten drei Jahrzehnten, was die Kunstszene betrifft, an Bedeutung verloren?
KB: Nach Covid hat sich eine andere Geografie weltweit abgebildet. Ich habe es leider, nachdem ich wieder viel in Europa bin, noch gar nicht nach Wien geschafft. Das ist das größte Versäumnis, weil alle davon reden, dass eigentlich Wien nach Covid ungeheuer gewonnen hat und so eine hohe Lebensqualität hat. Für die institutionelle Szene und für das, was in Europa passiert, hat Wien ungeheuer an Bedeutung gewonnen. Wohingegen über London viele sagen, dass es nach Covid Bedeutung verloren hat. Aber es pendelt sich alles so wieder ein.
Bei der Lebensqualität gebe ich Ihnen recht, Klaus. Die Frage ist eher: Was tut sich im Kulturbereich? Erwin Wurm ist bereits 70, Lassnig und Nitsch haben uns verlassen. Wer prägt die Gegenwart?
HUO: Ich glaube, dass es auf jeden Fall in jeder Generation in Österreich immer wieder interessante, junge Künstler
gibt. Klaus und ich sind ganz früh Markus Schinwald begegnet. Unsere Spielregel war auch, dass wir ganz viele Atelierbesuche machen. Vor sechs, sieben Jahren habe ich Philipp Timischl gesehen, der mit Videobildern arbeitet. Das ist interessant. In den letzten Jahren wurden Städte wie Zürich und Wien viel internationaler. Früher gingen Künstler an einen ganz bestimmten Ort. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Paris die Avantgarde nach New York verloren. Und dann, wie wir die Berlin Biennale gemacht haben, da sind viele Künstler nach Berlin gezogen. Klaus hat Nancy Spector und mich nach Berlin eingeladen. Wir hatten alle drei die gleiche Idee: „Lasst uns eine Biennale machen, die einfach Berlin mappt. Eine Kartografie. Die Künstler aus der ganzen Welt sind in Berlin, die Welt ist in Berlin.“ Dieses Phänomen gibt es heute nicht mehr. Es gibt kein neues New York oder Paris oder London.
Heute gibt es eine Polyphonie von Zentren, Wien und Zürich gehören da dazu. Wien fehlen nicht die Künstler. Es fehlt eine Großausstellung. Und das ist natürlich mit der Berlin Biennale, Klaus, die du erfunden hast, geglückt. Es gibt zu wenig Sichtbarkeit für diese wirklich aufregende Arbeit, die in Wien passiert. Das ist mein Gefühl.
KB: Ich würde das ähnlich sehen. Zeitgleich zur Berlin Biennale gab es diese Ausstellung „Sensation“ mit der Young British Art Scene. Die meisten Künstler, die wir für die Berlin Biennale hatten wie Pipilotti Rist, Ólafur Elíasson und Monica Bonvicini waren alles keine Deutschen. Es war eine internationale Szene.
Ganz viele Künstler sind damals ungeheuer sichtbar geworden – und sind es immer noch. Hans Ulrich, vielleicht hast du da gerade was für Wien erfunden. Es gibt diese Anlässe, zu denen sich – weil wir haben uns ja zu so einem Anlass wie der Biennale Venedig im Zug kennengelernt – die Kunstszene trifft. In Venedig sagt man auch nicht: „Ach, hier leben nicht genügend Künstler“. Aber es gibt so einen Ort, wo man weiß, dass, wenn man zufällig jemanden treffen möchte, dann ist man im Oktober in Paris und im Juni in Basel. Dann ist die Wahrscheinlichkeit eines kollateralen Zufalls relativ hoch (lacht). Das ist ja auch dieses Tolle an der Kunstwelt, dass man sich dann zu solchen Anlässen – egal wo auf der Welt – trifft. Ich glaube, Hans Ulrich, dass wir uns nie aus den Augen verloren haben liegt daran, weil wir doch ähnlich kompatible Dinge über mehr als drei Jahrzehnte gemacht haben. Für das bin ich sehr dankbar.
Klaus, Sie sind 2004 ans MoMA nach New York gegangen, haben 2010 auch das MoMA PS1 in Queens übernommen. Zeitgleich, Hans Ulrich, haben Sie in den Serpentine Galleries als Artistic Director begonnen. Gibt es eine Kunstwelt oder nicht eher viele parallele Welten?
KB: Ich hatte 1996 im PS1 angefangen. Es gibt Künstler, Kunst und Kunstgeschichte. Die Kunstgeschichte ist auch die Geschichte von Freundschaften und Gesprächen, wie wir das hatten. Und dann gibt es noch eine parallele Welt. Das ist der Kunstmarkt. Da sind auch die Künstler, dann gibt es Produkte und die Galeristen und diese ganzen Auktionshäuser. Wir waren immer so ein Parallelstrang dazu, aber getrennt. Weder Hans Ulrich noch ich haben je in dieser anderen Welt, die von Kunstmarkt und Galerien geprägt ist, gewirkt. Wir waren immer auf der Seite Künstler/Kunst/Kunstgeschichte durch unsere frühen Mentorinnen wie Joan Jonas, Yoko Ono, Marina Abramovic, Katharina Sieverding, Dan Graham. Das ist ja das Tolle an der Kunst, dass es so viele parallele Welten gibt, die auch gar nicht unbedingt miteinander verbunden sind.
HUO: Als die Fotografie erfunden wurde, ist ja die Malerei deshalb nicht redundant geworden, sondern hat sich neu erfunden. Als die Videokunst kam mit Nam June Paik, Dara Birnbaum und diesen ganzen Pionieren in den 1960er- und 70er-Jahren, ist ja dadurch die Fotografie nicht verschwunden. Genauso ist es mit den neuen Technologien. Das sind alles parallele Realitäten und es kommen eben neue Realitäten dazu. Wir haben in der Serpentine vor zwölf Jahren begonnen, mit Ben Vickers ein Technologie-Department aufzubauen. Ich dachte immer: Wir brauchen New Experiments in Art and Technology für unsere Zeit. Das Einzige, was die Museen damals mit Technologie hatten, war ihre Webseite. Alles andere war relativ peripher. Wir haben mittlerweile fünf Kuratoren, die sich um das Digitale kümmern. Vor zwölf Jahren haben wir schon begonnen mit AI zu arbeiten und mit der Blockchain. Wir machen ja nicht nur Technologieausstellungen. Es besteht eben die Möglichkeit, auch bei einer Ausstellung traditioneller Medien das als zusätzliche Dimension einzubinden. Jetzt arbeiten wir mit der indischen Malerin Arpita Singh an einer reinen Malereiausstellung, aber ebenso mit Google an der Digitalisierung dieser. Wir finden eigentlich für jedes Projekt auf traditionellen Medien eine digitale Komponente. Gleichzeitig können durch dieses Department auch wirklich hochkomplexe Technologieausstellungen stattfinden wie mit Holly Herndon und Mat Dryhurst, die quasi einen AI Data Trust erzeugt hat mit zwölf Chören. So ist eine chorale Musik entstanden mit AI, ein Large-Nature-System. Das ist ähnlich dem, was du beim MoMA gemacht hast, Klaus, dass man ein neues Department schafft. Und beim MoMA ist es dir auch sehr stark um die Erweiterung der Sammlung gegangen, während es bei einer Institution wie der Serpentine, die keine eigene Sammlung hat, vor allem um Produktion von neuer Realität mit diesen Künstlern geht. Beides ist equally relevant, glaube ich. Wir haben ja auch ein Department geschaffen für Ökologie.

KB: Im MoMA hatte ich ja diesen interessanten Titel „Chief Curator at Large“. Dann haben die Kollegen immer gelacht und gesagt: „Na ja, der Klaus ist für all das zuständig, was nicht auf ein Podest und nicht in einen Rahmen passt.“ Und dann kam eine Gruppe von ehemaligen Kolleginnen zu Anne Imhof und eine davon meinte: „Es passt nicht auf ein Podest und es passt nicht in einen Rahmen.“ (lacht) Hans Ulrich, du bist ein ungeheuer enzyklopädisch-archivarischer Mensch. Du hast mit allen Künstlern gesprochen. Du bist eine Enzyklopädie an Zitaten und Gesprächen – und das allumfassend. Gleichzeitig versuchst du aber auch alles für die Vergangenheit zu sichern und mit einer ungeheuren Neugierde und Großzügigkeit das Neue aufzunehmen, neue Talente zu fördern und neue Arbeiten zu ermöglichen. Das ist ja so interessant, dass man sowohl das eine als auch das andere macht. Ich glaube, dass wir uns da in gewisser Weise treu geblieben sind über die Jahrzehnte.
HUO: Ja, das glaube ich auch. Wir telefonieren alle paar Wochen zusammen und tauschen uns über interessante, neue Künstler aus. Ich habe ja deine großartige Andy-Warhol-Ausstellung gesehen, Klaus. Es war eine total gegenwärtige, neue Perspektive auf eine historische Figur. Die Zukunft wird oft auch aus Fragmenten der Vergangenheit erfunden. Durch neue Blickwinkel auf Werke der Vergangenheit.
Sie beide setzen sehr stark soziale Medien ein: Hans Ulrich, Sie haben 399.000 Follower auf Instagram und bisher 5.499 Postings gemacht. Klaus, Sie haben 302.000 Follower bei 8.842 Postings. Sie erreichen damit ein Vielfaches der Leser der größten Kunstzeitschriften der Welt. Muss man heute als Kurator, als Museumsdirektor auch Publisher sein?
KB: Ich bewundere Hans Ulrich, wie er das weiterhin so wachsen lässt. Da war ein Punkt, so um Covid herum, wo du einfach großzügig weitergemacht hast. Ich empfinde Social Media mittlerweile anders. Ich glaube, wir sind in einer Situation, wo wir uns der Komplexität so langsam bewusst werden. Mich hat irgendwann Marina Abramovic zur Seite genommen und zu mir gesagt: „Du bist es deinen Künstlern schuldig, du musst kommunizieren und ihnen helfen.“ Ich habe mal irgendwann über die Art und Weise, wie Joseph Beuys mit der Öffentlichkeit umgegangen ist, recherchiert. Er hat kommuniziert, wenn es der Sache oder dem Inhalt nützt. Hans Ulrich hat eine andere Ebene erreicht, weil er wirklich die Inhalte und die Künstler nach vorne bringt.

HUO: Die Frage ist ja immer: Wie kann man der Kunst nützlich sein? Der zweite Punkt. Wir haben irgendwie immer neue Spielregeln erfunden. Ich denke an „11 Rooms“ , was Klaus und ich zusammen gemacht haben, eines unserer Lieblingsprojekte in unserer Zusammenarbeit. Das hat in Manchester begonnen, weil ich immer für das Festival da arbeite. Dann haben wir Klaus eingeladen, zusammen diese Ausstellung zu machen. Die wächst jetzt weiterhin. Nächstes Jahr werden es „26 Rooms“ werden. Die Spielregel ist immer, dass es eine Türe gibt, und dann können die Besucherinnen und Besucher hinter der Türe eine lebende Skulptur wahrnehmen. Die Skulptur geht um 18 Uhr abends nach Hause. Es ist eine Skulpturenausstellung mit lebenden Skulpturensituationen. Das ist der Umgang mit Zeit. Das ist so ähnlich, wenn man mit Social Media darüber nachdenkt, wie man mit diesem Raum oder dieser Zeit umgeht. Instagram wurde erfunden als Image-Sharing-Plattform. Ich habe das eigentlich immer auch für andere Dinge benutzt wie für mein Handschriftenprojekt. Es ging mir darum, dass man Handschriften zelebriert von Künstlern, von Poeten etc. Ich habe vielleicht 2.500 handschriftliche Notizen gepostet. Der 94-jährige Nobelpreisträger Sir Roger Penrose, einer der größten Wissenschaftler unserer Zeit, sagte: „Mein ganzes Leben habe ich versucht, das Universum zu verstehen.“ Da habe ich gesagt: „Write it down.“ So wird Instagram zum Ausstellungsraum. Klaus, du hast ja auch eine sehr präzise Spielregel, dein Fenster.
KB: Das Fenster ist durch den Algorithmus „wegalgorithmisiert“ worden. Weil anfangs habe ich jeden Tag auch als Anlehnung an Künstler wie Yoko Ono oder On Kawara immer einen Blick aus dem Fenster fotografiert. Aber das geht in der augenblicklichen Logik von Social Media nicht mehr. Aber noch mal zurück zu Wien. In Wien könnte ich mir vorstellen, dass du mit so etwas wie „26 Rooms“ eine Stadt ganz anders erfährt. New York ist die Stadt, in der ich in meinem Herzen zu Hause bin. Wenn man in der eigenen Stadt so eine Ausstellung macht, ist man ja auch in gewisser Weise sehr dünnhäutig. Douglas Gordon hat immer gesagt: „Art is a great excuse to talk about the really important things in life, like life and death and love.“ Es ist, glaube ich, auch ganz wichtig, dass Kunst im wahren Leben doch etwas ist, was sich nicht über Medien abbildet, sondern da muss man wirklich präsent sein, vor Ort sein. Und das ist auch das Schöne an diesem Projekt, das wir jetzt seit 14 Jahren machen. Man kommt in einen Raum, da ist eine Skulptur. Diese Skulptur sind immer lebende Menschen, aber nie der Künstler selber.



